Armin König

Handeln unter Risiko – Wider den homo oeconomicus arrogantus

Als ich am 26. Februar das politisch-soziologische Fachbuch „Handeln unter Risiko“ (Herausgeber: Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer; Bielefeld 2010 ) bestellt habe, konnte ich noch nicht ahnen, dass es wenige Tage später hochaktuell sein würde. Das Buch ist das Ergebnis einer Tagung, die im November 2008 an der Humbold-Universität Berlin stattfand. Lange vor Fukushima wurde über die Frage der Risikokalkulation und der uncertainties – also der Unsicherheiten und der unerwarteten Ereignisse diskutiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den Black Swan von Nassim Nicholas Taleb.

Jetzt muss ich das Buch unter neuen Vorzeichen besprechen.

Und damit wären wir bei den Risiken und uncertainties der Atomenergie. Und bei der Frage, warum es trotz aller statistischen Unwahrscheinlichkeit möglich war, dass es seit Harrisburg schon 3 GAUs gegeben hat.

Wolfgang Bonß („(Un)sicherheit als Problem der Moderne“) schreibt:

„Zwar zielt insbesondere die probabilistisch orientierte Risikoforschung darauf ab,uncertainties in berechenbare risks zu verwandeln. Aber diese dem Modell nach einleuchtende Strategie ist in der Praxis offensichtlich nur begrenzt möglich und auch nicht immer sinnvoll“ (45).

Wir kennen die üblichen Statements der Politik: Eine Verkettung ungewöhnlicher Ereignisse. Das ist es immer. Und das ist nicht einmal selten oder außergewöhnlich. Im Modell ist vieles einfach – dank Komplexitätsreduktion (- dafür sind Modelle ja da).

Aber für Bonß liegt gerade hier ein Problem, denn die „gängigen Risikomodell“ seien „angesichts des nur begrenzt bekannten Ereignisraums zwangsläufig unterkomplex und könn[t]en gar nicht alle möglich Einflussfaktoren erfassen und überprüfen.“ (45)

Unfälle würden „häufig dadurch ausgelöst, dass es zu ‚unerwarteten Interaktionen‘ zwischen Elementen des Systems kommt, die in keinem Risikoszenario vorgesehen und somit gar nicht kalkuliert und überprüft sein konnten“. (46)

Bonß erinnert an Three-Miles-Island 1979 (Harrisburg), zählt auch den Anschlag auf das World Trade Center 9/11 2001 dazu, nicht aber Tschernobyl. Obwohl es paradigmabildend für die Risikoforschung gewesen sei, könne man es nicht als „unerwartete Interaktion“ bezeichnen, sondern als „eine aus dem Ruder gelaufene Notabschaltung“. Die hätte eigentlich planmäßig erfolgen sollen. Es kam dann aber doch zu unerwarteten Interaktionen, aber darüber wollen wir jetzt großzügig hinwegsehen.

Talcott Parsons (+1979) wollte diese strukturelle Unsicherheit gewissermaßen durch wachsende Erfahrung, Wissen und evolutionären Fortschritt weitgehend beseitigen -„frei nach der Devise: Zeit und Geld vorausgesetzt, lässt sich alles sicher machen“ (Bonß 47), Bonß bezweifelt aber, ob Parsons „seine Überzeugungen auch noch nach den Erfahrungen von Harrisburg, Tschernobyl oder NineEleven umstandslos aufrecht erhalten hätte“ (47).

Felix von Cube („Gefährliche Sicherheit“ 1990) sieht Unsicherheit sogar als als positives Element der Evolution. Der Mensch strebe danach, Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln und werde dafür „mit Lust belohnt“ (Cube, 11).

Ein bisschen Parsons ist immer noch aktuell, vor allem beim homo oeconomicus, dem positivistischen Fortschrittsmenschen, der alles in Geld aufwiegt und dabei die ökonomischen Chancen in den Mittelpunkt stellt. „Seine Perzeption der Unsicherheit läuft auf deren Abwehr und Verdrängung bei gleichzeitig hochgradiger Sicherheitsorientierung hinaus.“ (49) Die Controller regeln das schon.

Doch seit Ulrich Beck wissen wir, dass es alte und neue Risiken gilt. Zu den neuen Risiken zählen „komplexe Risikosysteme wie Kernkraftwerke, gentechnologische Versuchsanlagen oder globale Aktienmärkte“ (Bonß 54). Die alten Risiken waren noch beherrschbar. Schäden konnten durch Geld kompensiert werden. Für die neuen Risiken gilt dies nicht: „Radioaktive Wolken halten sich nicht an Ländergrenzen, die Halbwertszeit von belasteten Stoffen kann u.U. Jahrtausende betragen, und ein gentechnologischer Unfall oder die Einführung von Lebewesen in Räume, in denen sie keine natürlichen Feinde haben, können die Lebensgrundlagen ganzer Regionen nachhaltig verändern. In all diesen Fällen lassen sich die Schäden wegen der Entgrenzung der Nebenfolgen oft kaum sinnvoll angeben und erst recht nicht durch Geld kompensieren. Zwar gibt es durchaus Versuche, am Prinzip der Kompensierbarkeit festzuhalten – deutsche Kernkraftwerke beispielweise müssen gegen den GAU versichert sein. Aber betrachtet man die Höhe der von den Betrieben zu erbringenden Deckungsvorsorge (500 Mio DM bzw. 256 Mio €), so kann letztlich nur von einer symbolischen Haftung gesprochen werden.“ (Bonß 56)

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die bisherigen Risikoszenarien in Deutschland sehen bestimmt Risiken nicht vor. Dort wo sie vorgesehen sind (Flugzeugabsturz, Terroranschlag) ist wohl keine uncertainty in Bezug auf Erdbeben zu erwarten, die es in Deutschland zwar selten, aber immerhin gibt. Und wenn auf Grund nicht erwarteter Kettenreaktionen und Interaktionen dann doch ein GAU eintreten sollte (- auch das ICE-Unglück von Eschede war in dieser Form nicht vorhersehbar -), dann ist nicht einmal die vom homo oeconomicus zur Beruhigung des Volkes vorgesehene pekuniäre Entschädigung ausreichend, um die eintretenden Schäden zu kompensieren.

Niemand hat bei den bisherigen Atomkatastrophen einen GAU tatsächlich erwartet. Und selbst wenn er als denkbar eingestuft wurde, so wäre die Kombination, dass nach einem Erdeben und einem Tsunami vier nebeneinander liegende Reaktorblöcke außer Kontrolle geraten bis zu Kernschmelze, von keinem homo oeconomicus als glaubwürdig eingeschätzt worden. Selbst als Drehbuch für einen Katastrophenfilm wäre dieser Fall kaum angenommen worden – da zu unglaubwürdig.

In der Nacht vom 16.auf den 17. März 2011 heißt es in den Medien über das Drama in Fukushima: „AKW in Japan außer Kontrolle“ (Stern),  „28.000 Menschen müssen ihre Häuser verlassen“ ( Die Presse), „in Japan droht der Super-GAU (Focus online), „Anatomie der Apokalypse“ (Berliner Kurier), „Japan kämpft einsam gegen die Zeit“ (Die Presse), „Brennstäbe in Reaktor 4 komplett frei“ (n-tv), „50 Helden von Fukushima“ (Stern), „Techniker kämpfen unter Einsatz ihres Lebens“ und „US-Reaktorbehörde hält Strahlung in Fukushima für ‚extrem hoch'“ (Stern).

Wundert es dann noch, wenn in Deutschland ein Wechsel von kumulativer Risikobewältigung zu Risikoverweigerung erfolgt ist? Ganz sicher nicht. „Denn wenn zureichende Sicherheit nicht herstellbar ist und unbekannte Restunsicherheiten bleiben, dann liegt es nahe, sich den neuen Risiken zu verweigern“ (Bonß 57), die so neu nach Harrisburg und Tschernobyl ohnehin nicht mehr sind.

Die breite Mehrheit der Deutschen ist bei der Frage nach Sicherheitsgewissheit oder Unsicherheitsgewissheit mit guten Gründen auf die Seite der Skeptiker gewechselt.

Das muss auch der homo oeconomicus arrogantus in den Chefetagen der Energiekonzerne RWE, E.ON, EnbeWe und Vattenfall akzeptieren.

Fukushima ist das Ende der Sicherheitsgewissheit in der Atomenergie.

Und hoffentlich auch das Ende des homo oeconomicus arrogantus.