Armin König

Kinder begeistern und sie animieren, die Welt zu entdecken

Warum mischt sich eine Kommune in Fragen der Bildung und Erziehung ein? Kann sie überhaupt mitreden? Reicht es nicht, wenn sie als Schulträgerin Titel und Mittel im Haushalt zur Verfügung stellt? Ist nicht das Land zuständig für Bildung und Erziehung? Und wohin soll das alles führen?
Wir mischen uns ein, weil es Probleme gibt, und weil wir gern etwas ändern wollen.
Wir erziehen die Erwachsenen von morgen mit der Didaktik/Methodik von heute in einem System von gestern. Das ist nicht befriedigend.
Prof. Wassilios Fthenakis schreibt: „Das gegenwärtige System der Tageseinrichtungen in Deutschland entspricht – trotz mancher positiver Entwicklungen der letzten Jahre – weder den Ansprüchen moderner, forschungsgestützter Frühpädagogik noch den Anforderungen, die aus einem seit geraumer Zeit akzeleriert verlaufenden gesellschaftlichen Wandel resultieren.“
Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft . Dafür brauchen wir neue Schlüssel und neue Schlösser. Wobei wir von Bildungsschlössern weit entfernt sind, sofern wir keine Luftschlösser bauen wollen. Ich will das auch nicht aus dem Elfenbeinturm heraus diskutieren, sondern aus den Erfahrungen des Praktikers heraus, der in einem Kultur- und Bildungsort Verantwortung trägt.
Und deshalb nehme ich, nehmen wir die Herausforderung an, wenn Fthenakis schreibt: „In diesem Kontext stellt der Reformbedarf nicht nur eine fachliche, sondern auch vor allem eine politische Herausforderung dar.“
Da die Kommunen originär für die Daseinsvorsorge ihrer Bürger zuständig sind – und damit auch für deren Zukunft und für die Zukunft der Gemeinde, haben sie das Recht, in Zukunftsfragen wie Bildung und Erziehung mitzureden und anzuregen. „Aufmischen, Einmischen, Mitmischen“ ist auch Städten und Gemeinden nicht verboten, vor allem dann, wenn sie Geld zur Verfügung stellen. Und wir stellen viel Geld für die Kindererziehung zur Verfügung. Deshalb ist es legitim, wenn wir uns nicht nur zu Wort melden, sondern auch agieren – im Sinne einer fruchtbaren Kooperation.
Partizipation gilt deshalb auch für Kommunen. Wir wollen mit dazu beitragen, dass Kinder die Welt entdecken und begreifen können.
In ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können“ hat Donata Elschenbroich wesentliche Fragen frühkindlicher Erziehung gestellt: „Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Jahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?“ Der Hirnforscher Manfred Spitzer hat diese Erforschung unter die Überschrift „Ihr sollt euch wundern!“ gestellt. Wundern über die Welt, wundern über die Menschen, wundern über Tiere und Pflanzen.
Wer zurückdenkt an seine eigene Kindheit, wird sich vielleicht an ähnliche Entdeckungen erinnern können. Den Moment, als er zum ersten Mal in das kleine Flüssschen Ill gefallen ist, wird hier im Illtal niemand vergessen. Triefend nass stapften wir nach Hause. Wir rochen nach Ill, wir sahen aus, als seien wir durch den Bach gezogen worden, und wir schlotterten – vor Kälte und vor Angst, weil wir zu Hause eine Gardinenpredigt zu erwarten hatten. Es war ja nicht alles nett und schön damals. Immerhin war ich glücklich, in meiner Kindheit nicht mehr als drei Ohrfeigen bekommen zu haben, geprügelt wurde ich nie. Es ist trotzdem oder gerade deshalb etwas aus mir geworden. Ich durfte Musik machen auf einer Blechtrommel, was selbst meine geduldigen, stolzen Eltern zuweilen nervte, und ich durfte Musik hören, was das Größte für mich war. Unser Vermieter spielte auf einem alten Klavier Tanzmusik, sein Sohn spielte Trompete wie Louis Armstrong. Später habe ich selbst Klavier gelernt und im Musikverein die erste Trompete gespielt – am liebsten wie Louis Armstrong. Oh when the Saints blase ich noch heute zu später Stunde auf der kleinen, verbeulten Taschentrompete. Wenn es also Prägung in frühester Kindheit durch Musik gibt, dann habe ich sie erlebt, und sie hatte Folgen. Musik spielt noch heute eine wesentliche Rolle in meinem Leben, sie bereichert meine Welt. Als Kind wurde ich dafür sensibilisiert.
Ich durfte nach Herzenslust spielen – was wir auch taten, notfalls auf verbotenen Wiesen. Noch heute erinnere ich mich an die changierenden Farben der Grasflecken auf meiner Hose, und den Geruch des eingefetteten Lederballs – oder ist es der Geruch der Grasflecken und die changierende Farbe des Leders? Es waren Wunder der Sinnlichkeit – wie der Geschmack des eiskalten Wassers, das wir aus einer Schöpfkelle tranken. Geblieben sind auch die Erinnerungen an die Stürze auf dem Braschenplatz. Das Brennen auf und unter der Haut haben wir sowenig vergessen wie den Moment, als das Pflaster schließlich mit einem Ruck von unserem Knie oder dem Ellenbogen gezogen wurde.
45 Jahre ist das her. Und doch sitzen diese völlig unwesentlichen Erfahrungen, die wir in unserer digitalen Welt längst nicht mehr brauchen, in unserem Hirn – so wie der „Geschmack von Apfelkernen“ . Eric Kandel hat seine Entdeckungen auf der Suche nach dem Gedächtnis auf faszinierende Art beschrieben.
Ja, wir durften uns noch wundern. Wir haben die Welt erfahren, ertastet, erschmeckt, erkundet. Und heute? In der Informations- und Mediengesellschaft? Der Welt der Videospiele?
Nichts ist an dieser Welt sinnlich. Sie bietet Reize in Überfülle, aber keine Sinnlichkeit. Fast keine.
Zu besichtigen sind diese Phänomene des Reiz-Overkills tagtäglich auf den Flachbildschirmen dieser Welt, mit der wir immer weniger zurechtkommen, weil uns die sinnlichen Erfahrungen verloren gehen.

Haben wir ein Kontrastprogramm zur Glotze anzubieten? Einen Gegenentwurf, der Medienkompetenz verbindet mit Naturerlebnissen? Der vermittelt, dass es Vertrauen von Mensch zu Mensch gibt? Dass man sich aneinander festhalten und aneinander reiben kann? Oder kapitulieren wir?
Für viele Kinder (und noch mehr Erwachsene) ist die Welt tatsächlich flach geworden. Das ist verheerend, wenn man bedenkt, dass gerade die ersten frühkindlichen Erfahrungen „wichtige Spuren im Gehirn“ ziehen und uns prägen. Sie prägen ja nicht nur uns, sie prägen auch unsere kleinen Familienwelten, unsere größeren Gemeinschaften, unsere Gemeinden.
Wir in Illingen haben gespürt, dass auch eine Kommune in den Irrungen und Wirrungen der Postmoderne Verantwortung für junge Menschen übernehmen muss. Wir wollen Eltern und Pädagogen stärken, damit sie junge Menschen stärken können. Und wir wollen helfen, offenkundige Fehler im System zu korrigieren und zu überwinden, indem wir Neues schaffen und alte Fesseln sprengen. Damit haben wir uns selbst als Kommune Kompetenzen angeeignet, von denen Familien, die in unserer Gemeinde leben, profitieren können. In einer Zeit des demographischen Wandels und der zunehmenden Konkurrenz unter Kommunen ist dies wichtig. Wir wollen damit Bindungen und Verbindungen stärken.
Wenn wir Menschen produzieren, die nur nach Nützlichkeitsaspekten funktionieren, dann dürfen wir uns über Defizite und Defekte nicht wundern. Wer den Darwinismus und das „Survival of the fittest“ im Überlebenskampf der Arten zum obersten Prinzip erhebt, züchtet sich die Exemplare für den Menschenpark , denen es an Menschlichkeit, an Güte, an Nächstenliebe, Solidarität, an Aufmerksamkeit und Bindungsfähigkeit mangelt.
Wer aber schon in frühester Kindheit dafür sorgt, dass Kinder eine Welt der Wunder mit allen Sinnen erleben und genießen können, wer ihnen die Chance gibt, in Geborgenheit und in Sicherheit aufzuwachsen, der wird erleben, dass diese Kinder, die mit Resilienz ausgestattet sind, auch Rückschläge und Zurücksetzungen bewältigen können.
Dazu brauchen wir neue Formen der Zusammenarbeit, neue Netzwerke – und Begeisterung. Weil sich die Welt der Postmoderne verändert hat, weil Informationen und Netzwerke die Welt prägen, müssen sich auch unsere Bildungssysteme verändern, die so furchtbar festgefahren, starr und selbstbezogen sind – und auch die Pädagogen, die dort arbeiten.
Wir wissen nicht, wie die Zukunft wird, aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist auch nicht, wie viel Wissen wir vermitteln, obwohl Schulen sich so sehr auf reine Wissensvermittlung konzentrieren. Albert Einstein war klüger: „Phantasie ist wichtiger als Wissen, weil Wissen begrenzt ist“, hat er gesagt. Deshalb müssen wir Kinder motivieren, selbst zu lernen, zu forschen, zu probieren – die Welt zu entdecken mit allen Sinnen.
Dazu brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher, die den Mut haben, Neues zu erproben und die nicht nach Schema F vorgehen. Und wir brauchen Lehrer, die mit Begeisterung bei der Sache sind, die brennen für ihre Mission. Die Passion nicht als Leidensgeschichte, sondern als Leidenschaft begreifen. Wenn wir der Meinung sind, dass Schule in der postmodernen Informationsgesellschaft einen pädagogischen Quantensprung braucht, müssen wir innovative Lehrerkollegien unterstützen. Sie brauchen Freiheiten, um Kinder zu begeistern. Und Kinder lassen sich begeistern! Geben wir ihnen Freiheit! Und dann, liebe Pädagogen, machen Sie etwas daraus!

Kinder ernst nehmen, ihnen Begeisterung vermitteln, ihre Neugier fördern, auf ihre Ängste eingehen, ihnen die Einsamkeit nehmen und dabei den Rahmen für gute Erziehung bieten, das sind unsere Aufgaben. Wir müssen achtsam sein und ihnen die Chance geben, die Wunder der Welt zu erleben. Das ist mehr als genug.
Sie haben es in der Hand, Kinder so zu erziehen, dass sie die Welt erleben, erfahren und schließlich bewältigen. Viel Glück bei dieser Aufgabe. Und erhalten Sie sich Ihre Neugier. Es lohnt sich.

Literatur
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Astel, Arnfrid (1974): Zwischen den Stühlen sitzt der Liberale auf seinem Sessel. Epigramme und Arbeitsgerichtsurteile. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.
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Burtscher, Irmgard Maria (2004): Der Kindergarten – ein Ort zeitgemäßer Bildung?“ Internationale Entwicklungen – persönliche Einschätzungen. In: Unsere Kinder. Sonderausgabe Herbst 2004. Tagungsdokumentation der Pädagogischen Tagung am 3.9.2004 in Innsbruck: Kindergarten Gestern – Heute – Morgen. S. 9-14.
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Hagena, Katharina (2008): Ein Geschmack von Apfelkernen. Köln: Kiepenheuer und Witsch.
Kandel, Eric (2006): Auf der Suche nach dem Gedächtnis: Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München: Siedler.
Kaschnitz, Marie-Luise (1957): Neue Gedichte. Hamburg: Claassen.
König, Armin (1974): Kreativität im Sportunterricht. In: Turnen und Sport, Celle, 10/1974; S. 225-226.
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König, Armin (2007): Bürger planen Zukunft im demografischen Wandel. Norderstedt.
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Tenorth, Heinz-Elmar (2008): Bildung als Wert und Werte in der Bildung. In: Rödder, Andreas (Hrsg.): Alte Werte – neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht. S. 56-65.
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Überarbeiteter Vortrag beim 1. Illinger Bildungskongress am 20.3.2009 in der Illipse