Stille – wo bist du? Ein Megathema und ein Roman von Albrecht Selge

Albrecht Selge: Silence. 

Stille – wo bist Du? In dieser lärmigen, schrillen, grellen Zeit?  Ein Megathema hat sich Albrecht Selge für seinen Roman »Silence« ausgesucht. 

Wo er auch hinkommt: Lärm der Zeit. 

Ein Mann von 47 Jahren, der schlecht schläft und dem hunderttausende Gedanken durchs Hirn schwirren, lässt seinem Stream of Conscoiusness (Bewusstseins- und Gedankenstrom) freien Lauf. 

Der Icherzähler Albrecht steht vor dem Hauptbahnhof in Berlin und will zu einer August-Macke-Ausstellung nach Bonn fahren. Im Gepäck hat er »ein Buch, ein Wasserfläschchen, Noise-Cancelling-Kopfhörer und Ohropax«. Er muss noch warten, ihn nervt der Lärm einer Kehrmaschine der Berliner Stadtreinigung, so wie ihn zu Hause der Lärm der heranwachsenden drei Kinder zuweilen auf den Wecker geht.  Und so sucht er wartend Stille im kaum bekannten Moabiter Gedächtnispark zwischen Hauptbahnhof und Motel One. 

Mit Gedankenflügen in die Stille beginnt »Silence«, mit »Der Karthager«, mit »Nichts zu sagen«, mit »Durchatmen« und dem Strom der Assoziationen und Querbezügen durch Raum und Zeit, Dichtung und Musik. 

»Was bleibt vom Gewesenen, wo wollen wir hin? In immer neuen Varianten und Anläufen umkreist „Silence“ die einfachen und doch größten Fragen des Lebens. Der Erzähler sehnt sich nach der Schönheit der Stille und fürchtet sich vor dem Verstummen, vor dem Sturz ins endgültige Schweigen. Reisen führen ihn nach Bonn, Prag, Brüssel oder Teheran, zu einer Eremitin und ins eigene Innere, in magisch scheinende Vergangenheiten und in lustvolle Abgründe.« So steht’s im Klappentext.

Kritiker lieben das, was man an den positiven Rezensionen zu Silence ablesen kann. »Eine ›große Selbstbelauschung‘ von nahezu ‘heiligem Ernst‘, schreibt Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ. Ein rührendes Nachdenken über Liebe, Tod und ähnlich gelagerte Themen entdeckt Gustav Seibt in der Süddeutschen. 

Und ich? Bin ein bisschen hin- und hergerissen zwischen der Freude über einen exzellenten Schreiber und Erinnerung-Wecker einerseits und der Ratlosigkeit ob der Abschweifungen in einem handlungsarmen Setting. Was wichtig ist: Der Ich-Erzähler ist nicht der Autor, und die Frau des Erzählers ist nicht die Frau des Autors, und die drei Kinder des Erzählers sind nicht die zwei Kinder des Autors, die Fiktion unterscheidet sich von der Biografie des Autors, der einfach fantasieren und wunderbar formulieren kann und will und darf. Man muss immer wieder daran erinnern, weil autofiktionales Erzählen dazu verführt, Autor und Erzähler als eine Person zu sehen. 

Ich treffe schon auf den ersten Seiten auf bekanntes Terrain. In meinen Erinnerungen sehe ich den »großglasigen Hauptstadtbahnhof«, den »Geschichtspark« Moabiter Zellengefängnis.  Die taz schrieb: »Tritt man durch die Betonbögen und das eingemauert Gelände, wird es plötzlich still. Es ist, als habe der Ort eine Umgebung genauso vergessen, wie sie ihn«.  

Ich war dort, als ich im Motel One nebenan logierte. Also hat Selge auch seine und meine Erinnerungen geweckt. 

Im Maobiter Gefängnis sperrten die Nazis politische Gefangene ein, unter anderem Albrecht Haushofer, dem hier eine Installation gewidmet ist. Die Zelle ist der letzte Rest des monströsen Nazi-Bunkers, neben den Mauern, hinter denen die Stille zu Hause ist. 

Von Albrecht Haushofer schwirren die Gedanken Selges zu Marlen Haushofer, der Autorin der »Wand«, zu Franz Kafka, den ich im Studium rauf und runter gelesen habe, zu Vogelstimmen und Türkentauben. Und schließlich erfahren wir, dass die Frau des Erzählers, L. genannt, »eigentlich immer Lust hat«, und deshalb sei es »Auch gut, dass sie ihren verlässlichen St hat, einen sympathischen Menschen und funktionablen Liebhaber.)« Der Erzähler, der nicht der Autor persönlich ist, hat selbst auch eine Geliebte, derweil denke ich trotzdem an Max Frisch und Ingeborg Bachmann und den weltberühmten Satz: »Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material.« Davon, von diesem literarischen Material, gibt es ohnehin unendlich viel in diesem brillant formulierten Roman:

Wir hören vom Vater des Erzählers, Prof. Dr. Kurt-Victor Selge, den es tatsächlich gibt und der ein berühmter (Kirchen-)Musikwissenschaftler und Vorsitzender der Furtwängler-Gesellschaft war und nun wegen Demenz ins  Pflegeheim gezogen ist und damit einer anderen Art von Stille umfangen wird. Wir werden zu Ludwig van Beethoven und dessen Taubheit geleitet bis wir bei John Cage landen. Sein revolutionäres Musikstück 4’33 ist das Ende der tönenden Musik. 

4 Minuten 33 Sekunden Stille. Nur die Geräusche im Raum, wenn sie denn da sind. Die Geräusche. Ansonsten: Stille aus dem und im Instrument. 

Das war – neben den vielen Bekannten aus Literatur, Musik und Kunst, für mich das Schönste und Wichtigste, was ich in diesem großartigen formulierten, aber ziemlich handlungsarmen Roman gelernt habe: 

Dass ich John Cage und sein 4’33 für mich entdeckt habe. 

Und die Faszination der Stille. Die ist wirklich wunderbar.

Stille – wo bist du? Ich bin allhier….

Diese 4’33 möchte ich gern mal in einem saarländischen Konzertsaal zelebrieren. Auf einem Blüthner-Flügel. Den der Roman-Autor spielt. Und als Bühnenbild Bücherregale der Vergangenheit mit Enzyklopädien, die kein Mensch mehr im Schrank haben will. Nicht einmal als Deko für Belesenheit und bürgerliches Kulturbewusstsein. Wobei ich schon gern Kindlers Literatur-Lexikon im Schrank stehen hätte, das die Kinder dann entsorgen müssen. So habe auch ich meine Assoziationen, die allmählich wieder verblassen.

Was bleibt, ist Stille.

Silence. 

4‘33 Stille. Eine Unendlichkeit.

Was für eine Entdeckung. 

Und die Roman-Stille. 

173 Seiten lang.

Meine Wertung: Hervorragend geeignet für meditative Stille suchende, online-abhängige Menschen in Stress-Situationen. Auch für Musik- und Literaturkenner, die sich über Zitate und Anspielungen freuen. Man kann ganz viele Credit-Points dabei sammeln fürs Allgemeinwissen. Und abschalten. Wer Handlung und Action sucht, ist allerdings hier fehl am Platze. 

P.S.: »Lärm der Zeit«, der Begriff aus dem dritten Satz meiner Rezension, ist übrigens der Titel eines wunderbaren, großartigen  Musiker-Romans von Julian Barnes über Dmitri Schostakowitsch, der mich sehr berührt und bewegt hat. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, bei der es um russische Geschichte, Verfolgung, Jagd auf einen nicht angepassten Musiker und Komponisten, um Diktatur und Kreativität geht. Unbedingt lesenswert.

 

Anmerkungen zum Autor:

Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, studierte Germanistik und Philosophie und lebt als freier Autor mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

 

Dr. Armin König