Paolo Cognetti: Unten im Tal
rezensiert von Armin König
Was für ein bärenstarker kleiner Roman: Paolo Cognettis »Unten im Tal« erzählt in kargen Worten von einer kargen Berg- und Waldlandschaft und ihren Menschen, von Raubbau und Abstieg und den gnadenlosen Seiten der Modernisierung in einem abgeschiedenen Tal. Und karg ist auch die Gefühlslandschaft der Bewohnerinnen und Bewohner. Es ist ein Bruder-Drama, eine Natur-Novelle, ein Gesellschaftsroman aus dem Piemont.
In der Valsesia ist das Skigebiet Monterosa Ski ein riesiges Wintersportrevier entlang der Hänge des Monte Rosa, mit über 180 km Pisten, die das Piemont mit dem Aostatal verbinden. Aber ein solches pisten- und lifttaugliches kommerzielles Skigebiet muss erst einmal mit brutaler Gewalt gegen den Wald und den Boden hergestellt werden. Auch darum geht es in dieser kleinen Novelle aus Italien: Um Abholzung von tausenden Bäumen, um Ausbeutung der Einheimischen, die über den Tisch gezogen werden, um Arbeitslosigkeit.
Aber es geht um viel mehr: Zwei Menschen in existenziellem Konflikt.
Im Hemingway-Stil lässt Paolo Cognetti zwei Brüder aufeinanderprallen, die sich ewig nicht mehr gesehen haben.
Das ist trotz der harten , knappen Sprache hoch emotional.
Luigi und Alfredo treffen sich zum ersten Mal seit dem Selbstmord ihres Vaters wieder, um ihr Erbe aufzuteilen: Es ist nur eine alte Hütte in einem unbewohnten Dorf am Fuße des Monte Rosa. Luigi will Fredo die Hälfte abzukaufen. Er verschweigt dem gewalttätigen Raufbruder, der dem Alkoholexzess zugeneigt ist, dass der Wert der Hütte durch den Bau eines Sessellifts unmittelbar daneben drastisch steigen wird. Fredo erfährt es aber.
Seit Kain und Abel sind Bruder-Dramen in der Überlieferung präsent. Und nur soviel sei verraten: Es ist wie bei der Pistole im Theaterstück: Wenn sie im ersten Akt auftaucht, wird sie irgendwann auch abgefeuert. Hier ist es die Axt, mit der Fredo die Fichte fällt, die der Vater vor vielen Jahren gepflanzt hat, bevor sein Sohn nach Kanada auswandert ist. Sie richtet sich nicht gegen Luigi und dessen Frau Betta. Aber … – nein, wir spoilern nicht.
Um die Männerjagd auf ein mysteriöses Killer-Untier, das Wolf oder Hund sein kann und kleine und große Hunde reißt, geht es auch, um Blut und um Existenzen.
Und es geht um den endgültigen Loyalitätskonflikt zwischen dem anarchischen Fredo und dem staatlich alimentierten Luigi.
Verrät er ihn oder nicht?
Es ist bereits der vierte Bergroman von Cognetti: Nach »Acht Berge«, »Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen« und »Das Glück des Wolfes« richtet sich der Blick diesmal nicht nach oben zu den Gipfeln, sondern nach unten ins Tal. »Abstieg« heißt das Thema. Und das ist großartig umgesetzt.
Brillant übersetzt hat den Roman Christiane Burkhardt.
Bio: Paolo Cognetti wurde 1978 in Mailand geboren. Er studierte Mathematik, gab das Studium auf und machte eine Filmausbildung an der Civica Scuola di Cinema di Milano. Cognetti drehte mehrere Dokumentarfilme. Für Le otto montagne (deutsch: Acht Berge) wurde er mit dem bedeutendsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem Premio Strega. Der Roman ist 2022 verfilmt worden
Unten im Tal ist bei Penguin erschienen und kostet 24 Euro.