„Auf die Zukunft“! lautet der letzte Satz des preisgekrönten Romans von Inger Maria Mahlke.
Kritiker beginnen gern mit dem ersten Satz eines Buches, um das Publikum in Text und Sprache einzuführen. Bei „Archipel“ ist es sinnvoll, mit dem Schluss zu beginnen. Inger-Maria Mahlke erzählt ihre Geschichte rückwärts. Das ist nicht ohne Risiko, erzeugt dramaturgisch auch gewisse Hürden, gelingt aber am Ende exzellent.
Allerdings scheiden sich an dieser Erzählweise die Geister, die Leser und die Kritiker, ebenso am zuweilen fragmentarischen Stil. Aber genau dieser fragmentarische Stil, seit Novalis immer wieder gepflegt und perfektioniert, passt zu Europa, passt zu umfassenden Jahrhundert-Familiengeschichten. Es gibt keine Kontinuität. Nirgends. Das laufende Band ist eine Illusion. Deshalb ist Inger-Maria Mahlkes Romankonzeption überzeugend.
Die Warnung an Leser, die mit diesem Stil Probleme haben: Vielleicht ist „Archipel“ dann nicht ihr Buch –
vielleicht lassen Sie sich aber ein auf die vielfältigen Facetten und Zufälle der Geschichte und Geschichten.
Für mich ist „Archipel“ eine grandiose, pralle Familiengeschichte, die die Geschichte des modernen Europas von der Peripherie Teneriffas erzählt – mit all den Brüchen, Enttäuschungen und Hoffnungen, die Familien nur haben können.
Mahlke schreibt lebendig, ja geradezu süffig.
„Unendlich liegt sie vor uns, wie das Meer“, sagt Theobald Moore kurz vor Mitternacht, und die im Salon der Calle Viera Y Clavijo versammelten Gäste heben ihr Glas. Ada so überschwänglich, dass die Limonade überschwappt Sidney blickt zu Nanny Brown, die vor ihr kniet udn it einem Taschentuch die auf den Boden gefallenen Tropfen aufwischt.
Ein paar Kilometer weiter den Berg hinaus stillt Olga den namenlosen Säugling, der eine Woche später in der Iglesia de la Concepción auf den Namen Julio getauft werden wird.
Augusto Baute küsst ihre Stirn, Jorge an seiner Hand hüpft, weil er rausmöchte, die Raketen angucken, und alle sagen sie das Gleiche:
„Auf die Zukunft!“
So endet der Roman – aber so beginnt die Geschichte, die Mahlke erzählt.
Julio treffen wir am Beginn des Romans wieder. Er heißt Julio Baute Ramos, ist 1919 geboren, verheiratet mit Bernarda Marrero und ist der Vater von Ana.
Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, sind sozialistisch geprägt.
Ana hat es zur Politikerin gebracht, hat mit Umwelt und Tourismus Polit-Karriere gemacht – aber nun hat sie ein Problem. Ein Skandal-Problem und einen Todesfall. Ein Scheißproblem sozusagen.
Sie hat vermeidbare Fehler gemacht. „Vermeidbare Fehler“ heißt auch das erste Kapitel, das ihre Fehler aufdeckt. „Scheißkonferenzraum, denk sie, Scheißhotel. Warum so wütend, denkt sie, Scheißfreischwinger, Scheißfrüchtearrangement, Scheißvierteljahrestreffen mit den Hotelverbänden.“
Man hat als Politiker solche Scheißprobleme und Scheißtage. Ana weiß das, Ana kennt das.
Sich nichts anmerken lassen. So tun, als sei nichts.
Aber da ist was. Es gibt Gerüchte. Ein Bauprojekt. Korruptiv klingende Verbindungen. „Was eben alle machen“ auf der Insel. Für welchen Fleck auf Teneriffa gibt es keine Investorenpläne, Entwicklungsgesellschaften, Meetings?
Das ist auch hier die Folie der Erzählung. „Irgendjemand erbt ein Stück Land an der Autobahn. Einem Freund gehört ein Baufirma, beide sind mit dem Sprecher für Infrastruktur bekannt. Der beantragt Fördergelder bei der Europäischen Union für den Bau einer mehrspurigen Autobahn-Auf- und -Ausfahrt, mit Brücken und Zubringern auf dem Gelände.“ Und damit man den Zuschlag auch bekommt, wird etwas fantasiert von einer geplanten Freizeitanlage „mit integrierten Naturschutzzonen, nachhaltiger Ressourcennutzung, Bildungsangeboten und viertausend Betten am Ende der Ausfahrt“. (56-57)
Brüssel reagiert positiv. Ein Entwicklungsfonds schüttet zweimal Gelder aus, ein spanischer Europaabgeordneter kommt aus Brüssel zur Einweihung. Ein Jahr später dann die ersten Baumängel, von der geplanten Freizeitanlage und den integrierten Naturschutzzonen keine Spur, auch die 4000 Betten sind auf unbestimmte Zeit verschoben.
So läuft das.
In Teneriffa.
In Spanien.
In Europa.
Es gibt keine Kontinuität. Nirgends.
Ana wird Schwierigkeiten bekommen, ihr Mann Felipe aus dem adligen Spross der Bernadottes, der als Beruf „Clubmitglied“ angibt, ist keine Hilfe. Irgendwann hat er aufgehört an der Uni, um nur noch einfacher Bauer zu sein. Eine eher erbärmliche Phase, die schließlich vorbeiging. Jetzt ist er nur noch „Clubmitglied“. Tochter Rosa hat gerade ihr Kunststudium geschmissen. Sie kehrt zurück auf die Insel Teneriffa und in das heruntergewirtschaftete Haus der vormals einflussreichen Bernadottes.
Im Altersheim Asilo von La Laguno ist Großvater Julio mit 95 Jahren noch immer Pförtner. Er, der Radsportfan, der die Etappen der Tour de France auf seinem Fernseher schaut, ist die Zentrale. „Der Knotenpunkt. Die Schleuse zur Welt. Ohne ihn kommt man weder ins Asila rein noch raus“. Julio hat immer auf der falschen Seite gestanden, nie bei denen, die die Privilegien genossen, den Reichtum, die schönen Seiten des Lebens und der Insel. Julio war Kurier im Bürgerkrieg, war Gefangener der Faschisten, er floh und kam wieder, und jetzt hütet er die Schleuse zur Welt. Alles muss durch seine Tür. Wenn er gefragt wird, äußert er sich auch zur Tour de France: ob die Ausreißer als Erste ins Ziel kommen oder ob es eine Sprintankunft wird zum Beispiel. „Sprintankünfte erinnern ihn an die verfrühten Ejakulationen seiner Jugend.“ So legte Inger-Maria Mahlke Fährten. Etwa zu Julio, dem Pförtner des kirchlichen Altersheims Asilo. „Er verachtet die Kirche, aber er mag die Nonnen“.
Es ist Julios Jahrhundert, das Inger-Maria Mahlke mitreißend beschreibt, da Jahrhundert der Bautes und Bernadottes, der Wieses, der Moores und González‘ – Familiennamen aus ganz Europa. Aber da sind auch die, die keine Namen haben: Die Frau etwa, die für alle nur ‚die Katze‘ war: unverheiratete Mutter, Köchin, Tomatenpackerin – und irgendwann verschwunden.
Mit der Zukunft ist es so eine Sache. Die Einen fallen immer auf die Füße, die Anderen immer auf die Fresse. Mit der Gegenwart und der Vergangenheit ist es nicht besser. Das erleben auch die pointiert gezeichneten Nebenfiguren.
Mahlke nutzt die Familiengeschichte, um die Bautes, Bernadottes und Ruiz‘, um politische und soziale, historische und private Konflikte miteinander zu verweben. Da ist die Perspektivlosigkeit der Jugend auf den Kanaren, aber auch in Spanien, da sind existenzielle Probleme wie Demenz und Alter, da sind Skandale um Tourismus und Umweltpolitik und europäische Fördergelder und vieles mehr.
Einhundert Jahre Kanaren, einhundert Jahre Spanien – da MUSS Franco zur Sprache kommen, der Bürgerkrieg, die Kolonialzeit.
In den Wirren des Jahrhunderts kämpfen die Familien Bernadotte und Baute an unterschiedlichen Fronten. Und es gewinnen auch hier nicht die Guten, sofern sie denn überhaupt die Guten sind.
Anas Mann Felipe Bernadotte Gonzales war eigentlich Historiker (bevor er Bauer und dann „Clubmitglied“ wurde) und hat sich mit dem Machtmissbrauch seiner Vorfahren auseinandergesetzt. Sein Großvater Lorenzo González González war Zeitungsverleger und unterstützte in den 30er Jahren die faschistischen Falangisten. Lorenzo, der Franco-Anhänger und Kolonialismus-Profiteur, wollte noch die „Welt klein schlagen und neu zusammenbauen.“
Felipe sieht das schon kritischer und ruft am 23. Februar 1981, dem Tag des reaktionären Militärputschs, seinem Vater zu: „Glaub ja nicht, dass ich nicht, wenn es nötig wäre, wenn es irgendwelche Anweisungen gäbe – dass ich nicht kämpfen würde gegen euch.“ (228)
Während Lorenzo ein Vermögen als Verleger anhäuft, ist Julio Baute, den wir als radsportbegeisterten, ansonsten aber mürrischen Portier kennengelernt haben, als republikanischer Fahrrad-Kurier unterwegs und landet lange im Gefängnis. Und die unterprivilegierte Familie der Merche Ruiz Pérez bleibt dort, wo sie immer war – im sozialen Abseits.
Ja, das ist anspruchsvolle Lektüre. „Archipel“ liest sich nicht einfach so weg.
Da fügen sich viele kleine Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen. Für die Namen gibt es ebenso ein Register wie für wichtige kanarische Begriffe und Ereignisse. Das hilft und macht Spaß.
Mahlke hat für diesen sorgfältig komponierten Roman „Archipel“den Deutschen Buchpreis bekommen.
Die Begründung der Jury:
„Der Archipel liegt am äußersten Rand Europas, Schauplatz ist die Insel Teneriffa. Gerade hier verdichten sich die Kolonialgeschichte und die Geschichte der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert. Inger-Maria Mahlke erzählt auf genaue und stimmige Weise von der Gegenwart bis zurück ins Jahr 1919. Im Zentrum stehen drei Familien aus unterschiedlichen sozialen Klassen, in denen die Geschichte Spaniens Brüche und Wunden hinterlässt. Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar. Faszinierend ist der Blick der Autorin für die feinen Verästelungen in familiären und sozialen Beziehungen.“
Tauchen Sie einfach ein in dieses lebendige Treiben.
Mir hat es gefallen.
So wie die Kanaren.
Armin König