Von Dr. Armin König
Das Ideal der aktiven Zivilgesellschaft
Engagierte Bürgerinnen und Bürger sind der Traum vieler Staatsreformer*innen. Auch Bürgermeister und Bürgermeisterinnen wünschen sich fast immer die aktive Zivilgesellschaft, sofern sie nicht die eigenen Machtmöglichkeiten gravierend einschränkt. Aber die Realität entspricht nicht ganz den Träumen der Reformerinnen und Reformer. Das Bild ist etwas unklar. Die Couching-Fraktion scheint einerseits größer geworden zu sein in den letzten Jahren, andererseits schreiben zahlreiche Autorinnen und Autoren, es gebe einen Beteiligungs-Boom. Wie passt dies zusammen? Die Meinungen dazu sind sehr disparat.
Bürgerkommune ist mehr als nur Dienstleistungskommune und Stadtmarketing
Wenn Bürgerkommunikation und Bürgerbeteiligung nur als »essenzielle Vertiefung des Stadtmarketing[s]« (Schneider 2013, 13) gesehen wird, hat die Bürgerkommune keine echte Chance. Wenn der Begriff Bürgerkommune mit der überholten Idee der »Dienstleistungskommune« aus den 1990er Jahren verwechselt wird, in der die »Kunden« einen Teil der Leistungen selbst produzieren sollten, weil es ja ihre Gemeinde ist, ist ein Scheitern ebenfalls programmiert (vgl. Banner 1998).
Banner hat zweifellos große Verdienste um die Modernisierung der Kommunen. Er war maßgeblich an der Entwicklung des sogenannten »Neuen Steuerungsmodells« beteiligt, das wesentliche Impulse zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung in den 1990er-Jahren lieferte und die Kommunen aus der bürokratischen Verwaltung ihrer selbst befreite. Banner setzte sich lange für mehr Bürgerbeteiligung ein. Im Jahr 1998 schrieb er einen Artikel mit dem Titel »Von der Ordnungskommune zur Dienstleistungs- und Bürgerkommune – Kommunale Verwaltungsmodernisierung zwischen Bürgerschaft, Markt und Staat« (Banner 1998), der Dienstleistungs- und Bürgerkommune nicht nur begrifflich, sondern auch im konzeptionellen Ansatz miteinander verknüpfte. Während die Entwicklung von der Ordnungs- zur Dienstleistungskommune richtig beschrieben wurde, war die damals sehr aktuelle Verknüpfung von Effizienz in einer so genannten »Dienstleistungskommune« mit der politischen Option einer Bürgerkommune unglücklich.
Einwohner*innen wollen keine billigen Ersatz-Verwaltungskräfte sein
Die Einwohnerinnen und Einwohner wollen nicht billige Ersatz-Verwaltungskräfte sein. Sie wollen, wenn sie mitwirken, echte Partizipation, die letztlich auch empirisch zu validieren wäre.
»Eine beteiligungsorientierte Kommune zeichnet sich dadurch aus, dass möglichst alle (wesentli- chen) kommunalen Handlungsfelder und Entscheidungen partizipativ gestaltet werden. Hierzu gehören z. B. die Stadt- und Regionalentwicklung, die kommunale Infrastruktur, die Energiewende, kommunale Finanzen, Bildung und Kultur, Klimaschutz und -wandel, Kinder- und Jugendbeteiligung und die Wirtschaftsförderung.
Eine verlässliche kommunale Bürgerbeteiligung verbindet die im (Planungs-)Recht verankerte formale Beteiligung mit informellen, dialogorientierten Beteiligungsmöglichkeiten und sorgt für deren enge Verzahnung. Eine beteiligungsorientierte Kommune strebt zudem eine möglichst umfassende Bürgerbeteiligung bei der Umsetzung von Programmen des Landes, des Bundes und der Europäischen Union an.« (Netzwerk Bürgerbeteiligung)
Das ist etwas Anderes als das Neue Steuerungsmodell, und dieser Ansatz geht auch deutlich weiter als die klassischen Instrumente der Bauleitplanung.
Im Jahrhundert der Digitalisierung gelten neue Regeln.
Das Neue Steuerungsmodell der KGSt ist gescheitert
Mittlerweile gilt das Neue Steuerungsmodell als gescheitert, weil es die Bedeutung der Machtverhältnisse in den Kommunen außer Acht ließ. Die Stadt- und Gemeinderäte ließen sich nicht darauf beschränken, nur noch die großen Linien der Politik festzulegen, während die Verwaltung mit der bürgerfreundlichen Ausführung von Produkten das Heft des Handelns in der Hand hat. Deliberative Politik sieht anders aus. Immerhin entstand in diesem Zusammenhang die doppische Rechnungslegung in Anlehnung an die doppelte Buchführung der Unternehmen. 2023 kann man nun in allen Haushalten nachlesen, welche »Produkte« eine Kommune anbietet und wie ihre tatsächliche Haushalts- und Vermögenslage aussieht. Die Arbeit der Räte hat dies aber nicht erleichtert, und in den Verwaltungen ist die Daten- und Zahlenflut so stark angestiegen, dass es nur Insidern möglich ist, tatsächlich anhand objektiver Daten zu steuern.
Corona hat die Menschen stark frustriert, in den Städten und auf dem Land
Massive Frustrationen durch die Corona-Pandemie, durch Lockdowns und Kontaktbeschränkungen haben die Einwohnerinnen und Einwohner von 2020 bis 2022 ohnehin demotiviert. Es ist schwieriger geworden, nach dem massiven Übergewicht der nationalen Exekutive wieder die partizipativen Strukturen zu beleben. Dieses Forschungsdesiderat sollte bearbeitet werden.
Bei allen normativen Diskussionen über Bürgerbeteiligung ist es wichtig zu beachten, dass es einen Unterschied zwischen passiver Teilnahme, wie sie in klassischen oder Online-Umfragen stattfindet, und aktivem Engagement, wie es beispielsweise politisch ausgedrückt wird, gibt.
Gestaltungsmacht und Verantwortung
Um eine aktive Bürgerschaft aufzubauen, müssen Einwohnerinnen und Einwohner Gestaltungsmacht erhalten und Verantwortung übernehmen. Dies kann jedoch zu Konflikten mit den bisherigen Machthabern in Räten und Verwaltungen führen. Um diese Konflikte zu minimieren oder zu lösen, sind umfassende Informationen, eine breite und faire Kommunikation und eine gute Regierungsführung notwendig. Lovan et al. haben in ihrem Sammelband „Participatory Governance“ (Lovan 2016) deutlich gemacht, dass Planung, Konfliktmediation und öffentliche Entscheidungsfindung in der Zivilgesellschaft unmittelbar miteinander verbunden sind. Diese sind oft personenabhängig.
Ein multidisziplinäres Team aus Nordamerika, Europa, Afrika und Australien untersuchte in einer breit angelegten Analyse institutionelle Perspektiven und operative Belange, um die Dynamik der Stakeholder-Beteiligung als deliberative Prozesse zu untersuchen, die um die Kernidee der gemeinsamen Verantwortung herum aufgebaut sind.
Eine*r muss so richtig powern – mindestens
Bottom-up-Agenda-Setting, Kommunikation, Mobilisierung und Leadership gehören zusammen: Es braucht einen Motor für den umfassenden Partizipationsprozess und überzeugte Stakeholder, die mit den bisherigen Machteliten vertrauensvoll kooperieren. Ein Commitment ist daher unerlässlich (vgl. König 2011), ebenso wie die Fähigkeit, Menschen zu motivieren, zu begeistern und zu mobilisieren. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es im Laufe des deliberativen Prozesses zu Konflikten kommt, die von neutralen Vermittlern oder Moderatoren gelöst werden müssen.
Dies erfordert politische Kultur, gemeinsames Verständnis der Systembedingungen und Leadership, wie das Singapore Civil Service College in seinen Fallstudien zur öffentlichen Regierungsführung (Building Institutions in Singapore, 2012) dargestellt hat. Dabei spielt nicht nur die institutionelle Kultur eine Rolle, sondern auch großzügige Ressourcen, klare Zeitpläne (König 2011) und Zwischenstopps, um in einem Feedback festzustellen, was erreicht wurde und was nicht. Erfolge sollten gefeiert werden.
Jetzt wird’s digital
Die Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner könnte womöglich größer sein, sagen Partizipationsexperten, wenn man die deliberativen Mitgestaltungsformen erleichterte. Nach Ansicht von Habermas bringen die neuen digitalen Plattformen die deliberative Demokratie in arge Schwierigkeiten (Habermas 2022). Das muss nicht so sein, und das das sehen die Betreiber neuer Partizipationsplattformen auch völlig anders.
Anders als Habermas sehen wir die Digitalisierung sowohl als Gefahr als auch als Chance.
Wer Palaver-Plattformen wie Meta und Telegram zur Grundlage der Debatte macht, mag mit seiner Skepsis Recht haben.
Neue digitale Beteiligungsformen bieten aber auch ungeahnte Chancen für echte Bürgerkommunen – zu einem fairen Preis.
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Quellen und weiterführende Literatur
Banner, Gerhard (1998): Von der Ordnungskommune zur Dienstleistungs-und Bürgerkommune: Kommunale Verwaltungsmodernisierung zwischen Bürgerschaft, Markt und Staat. In: Der Bürger im Staat (4), S. 179–186.
Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp.
König, Armin (2011): Bürger und Demographie: Partizipative Entwicklungsplanung für Gemeinden im demographischen Wandel. Potenziale lokaler Governancestrategien in komplexen kommunalen Veränderungsprozesse. Merzig: Gollenstein. (Zugl. Diss. der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften, Speyer. =Malstatter Beiträge)
König, Armin (2019): Bürgerkommune. Ein Überblick. essentials. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24168-1_2
König, Armin (2019): Der Orientierungsrahmen der Bürgerkommune. In: Bürgerkommune. essentials. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24168-1_2
Lovan, W. Robert, Michael Murray & Ron Shaffer (2017): Participatory governance: Planning, conflict mediation and public decision-making in civil society. Routledge.
Netzwerk Bürgerbeteiligung (2015): Empfehlungen für eine verlässliche und wirksame kommunale Beteiligungspolitik. https://Empfehlungen für eine verlässliche und wirksame kommunale Beteiligungspolitik (netzwerk-buergerbeteiligung.de)
Roß, Paul-Stefan und Roland Roth (2021): Bürgerkommune [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 23.08.2021 [Zugriff am: 28.03.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3682. Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Buergerkommune
Roß, PS., Roth, R. (2018). Bürgerkommune. In: Klie, T., Klie, A. (eds) Engagement und Zivilgesellschaft. Bürgergesellschaft und Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18474-2_5
Schneider, Helmut (2013): Kommunale Bürgerkommunikation als essenzielle Vertiefung des Stadtmarketing. In: Schneider, Helmut und Heinz-Hermann Herbers (eds.): Kommunale Bürgerkommunikation. Konzeptionelle Grundlagen — Empirische Befunde — Kommunale Praxis. p. 13-32. Glückstadt: Hülsbusch.
van Deth, J. (2013). Politisches Interesse. In: van Deth, J., Tausendpfund, M. (Hrsg.), Politik im Kontext: Ist alle Politik lokale Politik? Individuelle und kontextuelle Determinanten politischer Orientierungen (S..271–296). Wiesbaden: Springer Verlag.