Armin König
In Zeiten der großen Debatten in der »Zeitenwende« und der ebenso großen, schon wieder neuen Unübersichtlichkeit (Habermas) spielen Politik-Erklärer*innen und -Expert*innen eine immer größere Rolle.
Gleichzeitig steigt die Bedeutung von Lobbyisten, die im Dienst von Konzernen und Verbänden, von Verlagen und ideologisch geprägten »Denkfabriken« stehen, und von Experten aus Wissenschaft und Journalismus. Sie erklären nach US-amerikanischem Vorbild auch in Deutschland auf vielen Kanälen in Rundfunk und Fernsehen, Podcasts und Social Media die große Welt der Politik, die oft ziemlich unerklärbar scheint. Ob das Publikum nach diesen Erklärungen giert, ist empirisch derzeit nicht belegt; möglich ist es. Fakt ist aber, dass die Medien die Expert*innen in unterschiedlichsten Formaten einsetzen – vom Interview über die Specials bis zu Talkrunden. Vor allem Maischberger, Hart aber fair, Presseclub, Maybritt Illner und Markus Lanz sind permanent auf Sendung mit Gästen.
Für Alexander C. Furnas und Timothy LaPira war der intensive Einsatz externer Augur*innen Anlass, die Fehleranfälligkeit und das Selbstbewusstsein der nicht gewählten Politik-Expert*innen genauer unter die Lupe zu nehmen (Furnas & LaPira 2024). LaPira ist Professor für Politikwissenschaft an der James Madison Universität in Virginia; mit dem Postdoktoranden Alexander C. Furnas hat er eine der größten Studien zur Funktionsfähigkeit der Mitarbeiter*innen-Stäbe im US-Kongress ins Feld gebracht und publiziert. (Furnas, Drutman, Hertel-Fernandez, LaPira & Kosar 2020)
Ihre wichtigste Erkenntnis: Die Leistungsfähigkeit der politischen Mitarbeiter*innen-Stäbe nimmt seit Jahren ab: zu wenig Mittel, immer weniger Stellen, zu wenig Erfahrung. Hinzu kommt, dass die meisten Kongressmitarbeiter*innen schon nach kurzer Zeit abwandern in die »K-Street« – ein geflügeltes Wort für die Avenue des großen Kapitals, zu den Lobbyisten also. (vgl. Furnas et al. 2020)
Kein Wunder, dass Präsident und Schlüsselministerien, die Speaker der beiden Parteien und vor allem die kapitalkräftigen Lobbyisten von außen bestimmten, wo es langgeht.
Furnas und LaPira wollten jetzt wissen, ob denn die professionellen Erklärer wissen, was die Wahlbevölkerung denkt und will.
Es ist eine spannende Studie, die Ende Januar 2024 in den USA in einer der wichtigsten politikwissenschaftlichen Zeitschriften erschienen ist: Im American Journal of Political Science haben die beiden Wissenschaftler der Artikel »The people think what I think: False consensus and unelected elite misperception of public opinion« (Furnas & LaPira, 2024) publiziert. Übersetzt: »Die Leute denken das, was ich denke. Falscher Konsens und falsche Wahrnehmung der öffentlichen Meinung durch die Elite.«
Gemeint sind hier die nicht gewählten Eliten. Ergebnis: Sie haben ein falsches Bild der öffentlichen Meinung, ganz gleich, ob sie eine starke Parteibindung oder nahezu keine haben oder hatten. Weil sie diesen falschen Eindruck haben, verbreiten sie eine Art konservativer Meinungsmache, die nicht durch die tatsächliche Volksmeinung gedeckt ist. Erstaunlicherweise hängt dies zwar auch mit parteipolitischen Vorprägungen zusammen, vor allem aber mit eigenen Vorurteilen über die Meinung der Amerikaner. Überspitzt zusammengefasst: Sie glauben zu wissen, was Amerika denkt. Sie tun so, als könnten sie in die Köpfe der Amerikaner schauen. Am objektivsten sind noch die Regierungsbeamten, die schon von Berufs wegen überparteilich agieren müssen. Aber auch bei ihnen gibt es diesen Bias.
Furnas und LaPira haben dies anhand von Triggerthemen (Mau et al. 2023) empirisch überprüft. Die Analysen sind eindeutig.
Egozentrik begünstigt und prägt falsche Wahrnehmungen elitärer Berufsvertreterinnen und -vertreter.
Ergebnis:
»We find this elite population exhibits egocentrism bias, rather than partisan confirmation bias, as their perceptions about others’ opinions systematically correspond to their own policy preferences. Thus, we document a remarkably consistent false consensus effect among unelected political elites, which holds across subsamples by party, occupation, professional relevance of party affiliation, and trust in party-aligned information sources.« (Furnas & LaPira 2024, Abstract)
Die Autoren stellen also fest, dass diese selbstbewusst auftretenden außerparlamentarischen »Eliten« eher eine egozentrische Tendenz als eine parteiische Wahrnehmungs- und Bestätigungsverzerrung aufweisen. Um es auf den Punkt zu bringen: Ihre Wahrnehmung der Meinungen anderer stimmt systematisch mit ihren eigenen politischen Präferenzen überein.
Einigermaßen verblüfft schreiben Furnas & LaPira in ihrer Zusammenfassung:
»Wir dokumentieren einen bemerkenswert konsistenten falschen Konsenseffekt unter nicht gewählten politischen Eliten, der sich über alle Teilstichproben nach Partei, Beruf, beruflicher Relevanz der Parteizugehörigkeit und Vertrauen in parteinahe Informationsquellen erstreckt.« (Furnas & LaPira, 2024)
Für die deutsche Szene stellt sich die Frage, wie es die professionellen Politik-Erklärer*innen hier halten.
Gilt auch hier: Die Leute denken, was ich denke? Sind hier die Vordenker-Meinungen polarisierter als in den USA? Denken und reden Wirtschaftswissenschaftler (etwa um Christian Lindners Berater Lars Feld) konservativer als das Wahlvolk, argumentieren die Mitarbeitenden im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk »linker und grüner«, wie oft kritisch vermutet wird?
Eine wichtige einschlägige Studie in Deutschland ist die »Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen« (Schultz et al. 2023) mit ihrer nunmehr achten Erhebungswelle. Das Medienvertrauen sei zurückgegangen, heißt es in der »Kurz-und-knapp«-Zusammenfassung, die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg habe bisher zu keinem vergleichbaren Anstieg im Medienvertrauen wie nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie geführt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe »das höchste Vertrauen aller Gattungen, verzeichnet aber den niedrigsten Wert seit Beginn der Langzeitstudie«. (Schultz et al, 2023, 1)
Gleichzeitig stellen die Autorinnen und Autoren der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen fest: »Der Anteil der Menschen, der auf etablierte Medien extrem kritisch bis feindselig blickt, ist leicht gestiegen«. (Schultz, 1). Nach 16% in der letzten Studie sind es jetzt 17%.
Allerdings lag der Anteil der teils-teils-Antworten immerhin bei 39%. Die kritischsten Positionen vertreten wie erwartet Sympathisanten von AfD. Dort ist die Feindschaft gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk am größten. Die Autor*innen sprechen von Medienzynismus. Das gilt insbesondere für das Fernsehen.
Im überwiegend negativen Bereich findet man auch die FDP-Sympathisanten und die der Linken. Das höchste Vertrauen haben Grünen-Anhänger (Schultz, 11).
Kritisiert werden allgemein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk »zu eng mit der Politik verflochten sei (37% Zustimmung, 27% Ablehnung, 31% teils,teils)«. (Schultz, 9)
Die Mainzer Studie kommt zum Ergebnis, dass die Medienentfremdung sich abgeschwächt habe:
»Im Jahr 2022 stimmten nur noch 21 Prozent der Aussage zu, dass die Themen, die ihnen wichtig sind, von den Medien gar nicht ernst genommen würden. Im Jahr 2018 lag dieser Anteil noch bei 27 Prozent, im Jahr 2017 bei 24 Prozent.« (Schultz, 13)
Das klingt auf den ersten Blick positiv. Man muss die Aussage aber differenziert betrachten. Heterogener wird das Bild, wenn die Eliten-Frage an das Publikum gestellt wird – ähnlich wie in den USA.
»Zusätzlich zu den Fragen, die sich auf eine etwaige Entfremdung von der medialen Berichterstattung beziehen, wurden in der Studie erstmals auch Urteile über Journalistinnen und Journalisten abgefragt. Wie denkt die Bevölkerung über diese Berufsgruppe –nimmt sie diese als eine abgehobene Elite wahr, die mit ihrem Publikum wenig gemein hat? Die wenigsten Menschen werfen Journalistinnen und Journalisten vor, überheblich zu sein; nur 7 Prozent stimmen der Aussage zu: ›Die meisten Journalisten schauen von oben herab auf Menschen wie mich.‹ Eine deutliche Mehrheit (73 %) stimmt dieser Aussage nicht zu, ein kleinerer Teil äußert sich ambivalent (16% ›teils, teils‹).
Mit einem Wert von 15 Prozent ist hingegen die Zustimmung zur Aussage, Journalistinnen und Journalisten hätten ›den Kontakt zu Menschen wie mir verloren‹, etwas größer – zumal hier auch noch gut jede und jeder Vierte zumindest partiell zustimmt (›teils, teils«). Noch größer ist die Zustimmung zu den Aussagen, dass Journalisten über Politik ganz anders denken als man selbst (20% Zustimmung, 39 % ›teils, teils«, 35 % Ablehnung) und ›in einer ganz anderen Welt‹ als die jeweiligen Befragten leben würden (25 % Zustimmung, 26 % ›teils, teils‹, 46 % Ablehnung).« (Schultz, 14-15)
An dieser Stelle kommen dann doch ins Spiel, was auch in der neuen US-Studie erkennbar wird:
Eine Wahrnehmungs-BIAS.
Dass Eliten in Politk, Wirtschaft, Medien und Lobbyverbänden ein falsches Bild der öffentlichen Meinung haben könnten, ist nicht ganz ausgeschlossen. Positiv ist allerdings, dass nicht das populistische AfD-Narrativ bestätigt wird, im Gegenteil: Es ist mehr als nur ein Grundvertrauen, das die Menschen in Deutschland denen zubilligt, die professionell Politik erklären. Unbestreitbar hat aber das Vertrauen in die Politik in Deutschland Ende 2023 laut Europarlemeter spürbar abgenommen. Und gegenüber Parteien und ihrer Repräsentanz ist die Skepsis der Bevölkerung noch größer geworden als bisher. Die Konsequenz der Studien: Selbstkritik der Expert*innen ist zwingend notwendig. Sie wissen nicht besser als das Publikum, was dieses will und denkt. Sie werden von der Öffentlichkeit sehr kritisch beobachtet.
Eine vergleichbare Studie wie in den USA wäre reizvoll und würde wichtige Erkenntnisse in Deutschland bringen.
Februar 2024.
Literatur
Ellis, Christopher J. und Thomas Groll (2023): Lobbyagenturen: Lobbyismus als Geschäftsmodell. In: Polk, Adreas und Karsten Mause (Hg.), Handbuch Lobbyismus. Availabe. Researchgate. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-32320-2_12
European Parliament EP (2023): Eurobarometer – Parlemeter 2023. Six months before the 2024 European Elections. Autumn 2023.
Furnas, Alexander C., und Timothy M. LaPira. (2024): “ The people think what I think: False consensus and unelected elite misperception of public opinion.” American Journal of Political Science 00: 1–14. https://doi.org/10.1111/ajps.12833
Furnas, Alexander C. und Lee Drutman, Alexander Hertel-Fernandez, Timothy M. LaPira & Kosar (2020): The Congressional Capacity Survey: Who Staff Are, How They Got There, What They Do, and Where They May Go. In: LaPira, Drutmann & Kosar: Congress Overwhelmed. The Decline in Congressional Capacity and Prospects for Reform. Chicago: University of Chicago Press. https://doi.org/10.7208/9780226702605
Jucks, Regina (2001): Was verstehen Laien? : die Verständlichkeit von Fachtexten aus der Sicht von Computer-Experten. Münster: Waxmann.
Mau, Stefan; Lux, Thomas; Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Schultz, Tanjey; Marc Ziegele, Nikolaus Jackob, David Stegmann et. al. (2023): Medienvertrauen nach Pandemie und „Zeitenwende“. In: Media Pespektiven 8/2023, 1-17. Available from: https://www.researchgate.net/publication/370497201_Medienvertrauen_nach_Pandemie_und_Zeitenwende#fullTextFileContent [accessed Feb 16 2024].
Stanovich, Keith (2021): The Bias That Divides Us: The Science and Politics of Myside Thinking. The MIT Press.