Königskinder – Der begnadete Erzähler Alex Capus verbindet eine romantische Schweizer Landliebe, eine Toyota-Panne, Versailles und Montgolfieren


Alex Capus
Königskinder
Hanser Verlag
176 Seiten
ISBN : 978-3-446-26009-2
€ 21,00 (D)
Er kann es noch, der gute Alex Capus. Er ist ein begnadeter Erzähler, und in „Königskinder“ beweist der Wahl-Schweizer erneut, dass er Leser begeistern und bezirzen kann – und dass exzellente Romane von der Sprache leben.
Königskinder ist ein wunderbarer Liebesroman, den auch Männer mit Vergnügen lesen können, weil es ja ein Mann (Max) ist, der nachts im eingeschneiten Auto seiner Frau Tina die wirklich und wahrhaftig wahre Geschichte vom armen Barfüßler-Bergbauernbuben Jakob aus dem Greyerzerland und Marie erzählt, der Tochter des reichen Bauern, der natürlich radikal gegen diese Verbindung ist.
Es sind also zwei Geschichten: die des unvernünftigen Ehepaares, das mit dem roten Toyota Corolla gegen alle Vernunft über die Jaunpassstraße fährt und bei immer dichterem Schneetreiben im Straßengraben landet, und die des Liebespaares aus dem 18. Jahrhundert, das gegen alle Widrigkeiten zueinander findet und beieinander bleibt.
Natürlich gibt es bei Capus keine erhobenen Zeigefinger, sondern nur das Erzählen – und eine grandiose Sprachmelodie.
Da beherrscht einer seiner Handwerk des Schreibens und des Spannungsaufbaus perfekt. Sprache ist Melodie, ist Rhythmus, ist Dialog, ist Leben, ist Fantasie.
Aber auch ohne erhobenen Zeigefinger lernen wir schon, dass sich Geduld auszahlt.
Für Leserinnen und Leser ist dieser Roman eine wahre Wonne: Man kann durch die Jahrhunderte fliegen und träumen und staunen und mitfiebern, und das ist alles nur in unserem Kopf.
Die Geschichte klingt schlicht und passt zum Landliebe-Klischee. Aber sie ist dank Capus so frisch und neu, dass es eine wahre Freude ist.
Der einfühlsame Tier- und Menschenversteher Jakob geht zum Militär, nachdem der reiche Bauer Magnin und seine Knechte ihm nachstellen, um Marie zurückzuholen. Jakob, jetzt Jacques Bosson, dient von 1779 bis 1787 im Regiment Waldner und tut Dienst in Cherbourg am Ärmelkana. Die Jahre des Militärdiensts übersteht er ohne Schaden und ohne dass seine Liebe zu Marie nachlässt. Dort will er wieder hin: ins Greyerzerland.
Aber das Schicksal spielt ihm erneut einen Streich. Wieder wird Jakob in die Pflicht genommen und als Kuhhirte in Montreuil auf dem Mustergut Elisabeths, der Schwester Ludwigs des XVI., gebraucht. Die ist völlig überfordert mit ihrem rousseauhaften Musterhof und hat keinerlei Erfahrung. Jakob, der Tierversteher, ist wieder der richtige Mann am richtigen Platz, findet auch den richtigen Ton im Umgang mit der Prinzessin, ist aber traurig, dass er nicht zu seiner großen Liebe Marie zurück kann. Der Prinzessin entgeht Jakobs Kummer nicht. Also wird auch Marie zum Hof der Prinzessin geholt.
Damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende, schließlich ist bald französische Revolution…. – und die führt zu allerhand Wirren und Chaos und einem sehr traurigen Ende für Madame Elisabeth. Aber die furchtbaren Geschichten der französischen Revolution muss ich ihnen ja nicht erzählen. Das wissen Sie schon selbst, und Capus erzählt sie brillant, und damit haben Sie auch das Framing für die Story.
Köstliche Ehedialoge des eingeschneiten Paars Max und Tina über Scheibenwischer und ihre Funktion bei trockener, halbnasser und nasser Scheibe, Handbücher, Besserwisserei, unvernünftige Touristen und die Tücken des Ehe-Alltags sind mindestens ebenso unterhaltsam wie die historische Bergbauernliebesgeschichte.
Ganz nebenbei erfahren wir noch, dass in dieser Zeit das Ballonfahren erfunden wird und in ganz Europa darob Verzückung, religiöse Empörung oder Fassungslosigkeit herrscht, weil „der Mensch sich über den Staub erheben wolle, aus dem er gemacht sei und zu dem er zurückzukehren habe; die Philosophen hingegen bejubeln die Macht des menschlichen Geistes, der die Gesetze der Schwerkraft, die er kaum hundert Jahre zuvor erdacht hat, für sich sebslt schon wieder außer Kraft zu setzen vermag.“ (61)
Wir hören und lesen vom Ausbruch des isländischen Vulkans Laki im Jahr 1783, von schwefelgelbem Nebel, von Vögeln, die tot vom Himmel fallen und einem nicht enden Winter. „Unter den Brücken erfrieren die Vagabunden im Schlaf“. Wie nebenbei schreibt Capus, dieser sorgfältig recherchierende Meister der Erzählung: „Auch Marie ist mesmerisiert“. (64) Und dann baut sie mit Mathilde eine kleine Luftkutsche, und beim vierten Versuch funktioniert es.
Derweil schwadronieren und fabulieren und spintisieren Max und Tina in ihrem verschneiten Toyota, ob die Rollenbilder der Erzählung auch richtig getroffen sind. Es ist ein köstliches Lesevergnügen mit Meta-Ebenen. Denn da sind auch die Generationen-übergreifenden Anachronismen, etwa die Beschreibung der Prinzessin Elisabeth als „schwer erziehbarer Wildfang mit Autoritätsneurose und Aufmerksamkeitsdefizit“, als „Rote Zora von Schloss Versailles“.
Alex Capus hat mit „Königskinder“ einen be- und verzaubernden Roman über die Tücken der Liebe und der Ehe, die Kunst des Wartens und den sinnlichen Genuss des Erzählens über die Zeitgrenzen hinweg geschrieben. Das ist historisch und zeitkritisch.
„Königskinder“ ist der perfekte Stoff für einen wunderbaren Film.
Das Drehbuch schreibt sich fast von selbst, die Dialoge müssen nur noch gesprochen, die Bilder in Film umgesetzt werden.
Über Alex Capus
Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016) und Königskinder (Roman, 2018).
Armin König