Kritik zu: Thomas Hettche, Sinkende Sterne, 2023.
Sinkende Sterne: ein Mix aus Sintflut, Klimakatastrophe, Lebenskrise, Alpenmythen, Philosophie, Genderkritik und Erotik
von Armin König
Eine Naturkatastrophe im Wallis, eine Sintflut mit Untergang eines ganzen Tals in Zeiten der Klimakatastrophe, eine Regression des eidgenössischen Dorfes Leuk ins Archaisch-Faschistisch-Machtpolitische Kleinklein, Fremdenfeindlichkeit, martialische Grenzkontrollen, Kultur- und Wissenschafts- und Gender-Kritik, eine veritable männliche Sinn- und Lebenskrise, Künstlergeschichte eines einsamen Autors, zarter Liebesroman, grandioses Alpenpanorama, Phantastik und Schattengeister, Archäologie der Erinnerungen: Das ist das fulminante Setting des neuen Romans von Thomas Hettche: »Sinkende Sterne«. Die Kritiker haben gejubelt – bis auf einige Wenige. Darf man den Autor und die ihn lobenden Kritiker trotzdem hart kritisieren? Wo es doch um existenzielle Fragen unserer Zeit geht, in der Grenzziehungen, Abschottungen, Fremdenfeindlichkeit, Diversität, Religionskritik, Männerschwäche, Identität, faschistische Machtfantasien die Schlagzeilen beherrschen.
Man darf. Hat Hettche denn nicht alles aufgenommen, was derzeit am Wegesrand der Tagespolitik zu finden ist? Das hat er. Aber genau das ist das Problem: Die Überladenheit, die Überfrachtung, die fehlende Tiefe. Alles und nichts kommt vor. Es ist eine Art philologisch-philosophischer Druckbetankung mit In-Themen, letzten Sinn-Fragen und erotisierender Sehnsucht. Es soll klug und massentauglich daherkommen – im bequemen Häppchenstil erzählt. Cui bono? Wem nutzt dies?
Am Schluss des Romans, der nahezu fragmentarisch im Offenen endet, bleibt vielfach Ratlosigkeit der Leserinnen und Leser. Die Erfahrenen unter ihnen posten dies auch in Literaturzirkeln.
Kritisch darf man die Kritikerinnen und Kritiker fragen, ob sie den Roman denn tatsächlich zu Ende gelesen haben oder ob sie pars pro toto die spannendsten Teilstücke ausgewählt haben, um darauf ihr Urteil fürs Ganze zu begründen. Nehmen wir an, dass es nicht so war. Es ist dann trotzdem legitim, zur herrschenden Kritikermeinung ein abweichendes Urteil vorzulegen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich einer gegen alle stellt.
Einer gegen alle – Der Dichter und sein Henker
„Der Dichter – und sein Henker“, so hat die Süddeutsche Zeitung ihre Buchkritik zum Roman Woraus wir gemacht sind in Anlehnung an Friedrich Dürrenmatts Richter und sein Henker überschrieben. Der prominente Dichter ist Thomas Hettche, der prominente »Henker« ist der SZ-Kritiker Thomas Steinfeld. Die Kritik, die man böse nennen kann, ebenso wie den Titel der Kritik, beginnt mit den Worten: »Alle Kritiker beugen ehrfürchtig die Knie vor Thomas Hettches neuem Buch ›Woraus wir gemacht sind‹. Alle Kritiker? Nein. Einer nicht. Unserer.« 2010 war das. Hettche stand gerade auf dem ersten Platz der SWR-Bestenliste, ausgewählt von »zweiunddreißig der bekanntesten deutschen Literaturkritiker« Deutschlands, für die es »das beste literarische Werk dieses Monats« September 2010 war. Die Jury des Deutschen Buchpreises hatte den Roman in ihre Shortlist aufgenommen. Für sie gehörte »Woraus wir gemacht sind« nach den Regeln des Preises »zu den sechs besten Büchern der jüngsten Zeit«.
Steinfeld war überhaupt nicht einverstanden mit dem Votum seiner Kolleginnen und Kollegen. „Kann es sein, dass sich so viele tüchtige Menschen irren?« fragte der ebenso tüchtige SZ-Kritiker. Seine Antwort: Ja. Er kritisiert schiefe Metaphern, schlechtsitzende Sätze, Kitsch, den Versuch, »die Metapher als Knalleffekt benutzen zu können« und präzisiert dies auch: » Wenn Thomas Hettche nur beschreibt, eine Landschaft, ein Auto, ein Pferd im Regen, wenn er sich ganz seinen Gegenständen überlässt, ist er anschaulich, lebendig, präzis. Leider geschieht das selten. Eine Gier sitzt ihm im Nacken, ein fataler Ehrgeiz, es nicht bei einer angemessenen Beschreibung bewenden zu lassen, sondern sie – und sich selbst – in einem fort übertreffen zu wollen […].« (Steinfeld 2010)
Und nicht nur das: »Das alles aber ließe sich ertragen, wenn es nur um die paar Stunden trivialer Unterhaltung ginge. Doch dieses Buch will nicht nur sprachlich, sondern auch konzeptionell anspruchsvoll sein, es will auch intellektuell überzeugen.«
Steinfeld kritisiert die »Versatzstücke und Erkennungsmarken« für den »Kreis der Bescheidwisser und Erfahrenen«, die so typisch für die Internet-Google-Twitter-X-Generation sind. Der Verriss wird aber noch härter, wenn der Kritiker bei Hettche die Mischung aus Philosophie, Erotik und Metaphysik aufs Korn nimmt: »Immer, wenn es spannend werden soll, versteigt sich Thomas Hettche in metaphysische Gemeinplätze, in einen sauren, poststrukturalistischen Kitsch, der sich seine Inspiration bei Michel Foucault abgeholt hat, in der längst bis an den Grund der Peinlichkeit zerredeten Metapher vom Menschen, der hinwegspült wird wie ein Gesicht im Sand.« Im neuen Roman »Sinkende Sterne« ist es nicht der Sand, sondern das Wasser des neuen Sees, der durch die Sintflut und den Bergrutsch im Rhonetal entstanden ist. Steinfelds gnadenlose Einschätzung: »Thomas Hettche unternimmt in diesem Buch – nicht zum ersten Mal übrigens – den Versuch, intellektuell und trivial zugleich zu sein, mit dem ganzen großen Anspruch eines deutschen Schriftstellers in die Welt der Unterhaltungsliteratur vorzudringen. Er will den Erfolg, er will ein richtiger Dichter sein, der die Massen betört. Es wird dieses Motiv sein, das die Kritik an ihm schätzt: dass es da einen gibt, der den Sprung hinaus tun will, hinaus aus dem Ernsten und Schwierigen in das Leichte und Beliebte, aber so, dass er doch den seriösen Charakter nicht ganz verliert. An der Überzogenheit dieser Anstrengung zum Tiefsinn aber geht das Buch zugrunde.«
Was dieser brutale Verriss mit Hettches neuem Roman »Sinkende Sterne« zu tun hat? Alles. Wieder haben viele Kritiker den Roman gelobt – von Hubert Winkels (SZ) über Cornelia Geißler (FR) bis Philipp Theison (FAZ), Roman Bucheli (NZZ) und Dennis Scheck (ARD). Nur Angela Gutzeit (Deutschland) wagt es, den Hettche-Roman zum Schluss ermüdend zu finden. Und wieder kann man ähnliche Kritikpunkte anbringen wie Thomas Steinfeld 2010. Und auch das große Thema taucht ja wieder auf: Woraus wir gemacht sind. Und vielleicht auch: wie wir verschwinden – als sinkende Sterne. Seriöse Überzogenheit und kitschige Heimattümelei – ist das das neue Problem? Wir wollen dem populären Dichter nicht Unrecht tun.
Hettches Zitier- und Linkwut
Hat Hettche als etablierter Autor die Freiheit, an seinen Ambitionen zu scheitern? An seiner Belesenheit? An seiner Zitierwut? An seinen Links und Querverweisen?
Darf er, was man jedem Debütanten, jeder Debütantin ankreiden würde: allzu ambitioniert alles und jedes in einen 208-Seiten-Roman packen, um am Schluss den Faden zu verlieren, den er in »Herzfaden« so brillant zusammengebunden hatte?
Hettche will alles: Sein Ausgangspunkt ist einerseits die Sintflut der Bibel (Noah tauch als Noe auf), andererseits Homers Odyssee mit der Blendung des Polyphem und Bezirzung durch Kirke als Heldenreise. Das ist das Muster, aus dem große und kleine Romane gewebt sind. Auch Hollywood liebt die Heldenreise als Konstruktionsplan dramatischer Geschichten. Bald folgt der Link zu Dantes Göttlicher Komödie und zu den Geschichten aus tausendundeiner Nacht mit der um ihr Leben erzählenden Sherezad (Sheherezade). Seinem Schüler Dschamil, dem Einzigen, der ihm geblieben ist an der Uni, bevor er als Dozent »entsorgt« wird, legt der Ich-Erzähler Hettche die Sindbad-Erzählung ans Herz, um durch Lektüre und Umsetzung des Gelesenen in Literatur selbst zum Künstler zu werden. Odysseus Hettche selbst landet nach einem für ihn schrecklichen Vorladungs-Termin (er soll ausgewiesen, das Chalet seiner Eltern zwangsversteigert werden) beim neuen anachronistischen Faschisten im Wallis , dem Kastlan, der nach einer Umweltkatastrophe die Macht in einer abgeschiedenen Bergregion im Rhonetal übernommen hat.
Hettche findet seine Jugendliebe Marietta und deren bezaubernde Tochter Serafina wieder und lässt sich auf deren Märchen, Mythen und Dialekt-Erzählungen ein, hat Sex mit Marietta, geht mit ihr auf die Alpe, um Käse herzustellen, kehrt zurück in die karge, kalte Behausung seines verstorbenen Vaters. Hettche lässt einen Vater-Sohn-Komplex aufblitzen, eine unverarbeitete Schuld, weil er nicht zur Beerdigung seines Vaters ins Wallis gekommen ist. Zu den Ankerpunkten gehört die Serafina-Geschichte. Auf den ersten Blick ist es nur die Story einer unangepassten Tochter, die im Lebensmittelladen ihrer Mutter Marietta aushilft, merkwürdige Sätze spricht und Sagen des Wallis rezitieren kann. Auf den zweiten Blick verbergen sich hinter dem Namen Serafina andere Bedeutungen: Da sind die Serafinen der Göttlichen Komödie, die im Paradiso zu Hause sind, dem dritten Teil des bedeutenden Werkes. Die Engel spielen auch in den Duineser Elegien Rilkes eine Rolle, die dieser im Wallis fertiggestellt hat.
Es folgt ein furios-fantastisches Intermezzo bei einer schwarzen transsexuellen Bischöfin, die ihrer Soutane lüstern öffnet. Später landet Hettche an Rilkes Grab, dessen Lebensgeschichte ebenso angerissen wird wie die Duineser Elegien, die die Chateau-de-Muzot-Zeit Rilkes mit seiner Geliebten Balladine Klossowska und deren Sohn Balthus, um schließlich im allerletzten Abschnitt des Romans auch noch das Chalet Balthus, die Gräfin Setsuko und David Bowie ins Spiel zu bringen.
Es ist eine geradezu schwindelerregende Kopräsenz all der Figuren, die real und erfunden, mythisch und mystisch als Schatten und Wiedergänger durch den Roman fliegen, auftauchen und wieder unterzutauchen und im Heideggerschen Sinne zu nichten. Manche tauchen nur kurz auf wie Sternschnuppen, um kurz darauf zu sinken und wieder zu verschwinden, andere haben wie in einem schnell geschnittenen Filmclip wiederkehrende Auftritte. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr. Hettches Männer- und Lebenskrisenroman (»Männer sind sinkende Sterne«) nimmt Anleihen bei der Film- und Seriengeschichte (Fritz Lang, Ich denke oft an Piroschka, Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Jean Luc Godard, Isabelle Huppert, Star Wars, The Sopranos) und zappt sich durch die Jahrzehnte. Philosophisch bezieht sich Hettche auf Thomas Hobbes, Nietzsche, Jean-François Lyotard, den heiligen Michel »Saint Foucault«, und Judith Butler und auch Heidegger (Todtnauberg) und der unselige Nazi-Jurist Carl Schmitt tauchen kurz auf der Leinwand auf, was angesichts des Settings einer Naturkatastrophe mit der Regression des Walliser Tälchens zu einem faschistischen Retro-Fürstentum durchaus schlüssig ist.
Proust wäre zu nennen, Kafka, Virginia Wolfe, der Dichter Hettche, der sich selbst zitiert, die Buchrücken von Willi Heinrich, Heinz G. Konsalik, Proust, Cronin, Danella, Knef, Simmel, die allesamt im verlassenen Chalet der toten Eltern stehen sowie die neueren Bücher bei Dschamil: Colson Whitehead, Leila Slimani, David Foster Wallace, Fuad Rifka, Gottfried Benn, Cormack Mc Carthy, Wolfgang Herrndorf, Georg Büchner, Giuseppe Tomaso de Lampedusa. Schließlich fehlen noch die von Hettche nicht Genannten, die aber doch durch Querbezüge eine Rolle spielen: Esther Kinsky, Christian Kracht, Hermann Hesse, Thomas Mann…
Vor allem aber muss man Hettches großes Vorbild nennen, den Vorkämpfer des poetischen Realismus, der mit Stopfkuchen, Die Innerste, Das Odfeld gesellschaftskritische Romane und Erzählungen schrieb: Wilhelm Raabe.
Sind all diese Verweise, Querbezüge und Links nicht ein bisschen viel für einen Roman, den man wegen seines Umfangs und seiner Thematik auch eine Novelle nennen könnte? Er ist es ja auch – auf der Grundlage eines unerhörten, einmaligen Ereignisses bei Heinrich von Kleists Erdbeben von Chili.
Ja, es ist ein bisschen zu viel des Guten. Ein schöner Roman ist es trotzdem. Und viel Gutes ist ja auch unterhaltsam und bildend.
Armin König
siehe auch:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/autor-thoma-hettche-ueber-den-wert-von-literatur-warum-ein-100.html