Wird Bundeskanzler Scholz nach der Europawahl zum Rücktritt gedrängt?

Es brodelt in Berlin

Foto Armin König

Dass Spitzenpolitiker ihre eigene Regierung schmähen, kam schon öfter vor, zum Beispiel 2010 zu Zeiten von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). FDP-Minister Daniel Bahr (wer kennt ihn noch? er war Gesundheitsminister[1]) bezeichnete die CSU als »Wildsau«. Daraufhin nannte der damalige CSU-Generalsekretär die Liberalen »Gurkentruppe«.[2]

Das war eine ungewöhnliche Umgangsweise, aber im Vergleich zu den Verwerfungen in der Ampelregierung unter Olaf Scholz ist das noch völlig harmlos. Unmittelbar vor der Europawahl wird in diversen Medien spekuliert, ob und wann die Koalition zerbricht und wann Bundeskanzler Olaf Scholz gestürzt, zum Rücktritt gedrängt oder ersetzt wird. Gedankenspiele ums Kanzleramt wagten schon mehrere bekannte Medien, darunter die Süddeutsche Zeitung, Politico, Münchner Merkur, t-online, Focus.

Der »Stern« titelte beispielsweise im Innenteil der Ausgabe vom 20. März 2024: »Lindner und die FDP: So könnte es zum Bruch der Ampel kommen.« Die Leadsätze des Magazins zum Artikel: »Die FDP steckt in der Krise.[3] Christian Lindner will seine Partei aus der Todeszone führen und zielt auf den Sommer. Zerbricht daran die Ampel?« Lindners Agenda heißt nach Ansicht der Zeitschrift »Wirtschaftswende«.

Beim FDP-Bundesparteitag am letzten Aprilwochenende 2024, der mit dem dämlichen Slogan »Wachstun made in Germany« auffiel, wurde diese so genannte »Wirtschaftswende« beschlossen. Wachstuch? Wachstun? Nichtstun? Oder Wa(ch)s? Welche merkwürdige Wortneuschöpfung samt Bundesbabyadler-Neukreation. Ein bisschen kindisch klingt das schon. Oder verzweifelt. FDP-Generalsekretär Bijan Djir Sarai beeilte sich, zu betonen, dies sei kein Ausstieg aus der Ampel. Aber die Medien thematisierten es dennoch so, zumal er von »unüberbrückbaren Differenzen zu den Koalitionspartnern«[4] gesprochen hatte[5]. Das erinnert sehr an Graf Lambsdorff und sein 1982er Ausstiegspapier aus der sozialliberalen Koalition.[6]

Das Portal t-online sieht die Koalition in Schockstarre, das Ende sei nahe: »Jetzt verlieren sie die Nerven.«[7]

Bei »wahlkreisprognose.de« liest man unter der Überschrift »Wunsch nach Neuwahlen auf Rekordhoch«, dass nur 28% der Wählerinnen und Wähler befürworten, dass die Koalition bis zum Ende der Legislatur im Amt bleibt. »Eine wachsende Mehrheit (54%) der Wahlberechtigten jedoch spricht sich für vorgezogene Bundestagswahlen aus. Davon bevorzugen 22 Prozent (+8%) Neuwahlen parallel zur Europawahl im Sommer 2024, während 32 Prozent (+2%) sie noch früher wünschen.«[8]

Solche Spekulationen über einen möglichen Koalitionsbruch oder einen Kanzlersturz, insbesondere wenn sie in sozialen Medien nur angeteast werden mit deftigen Schlagzeilen, treiben die Clickzahlen nach oben. Vielleicht erhöhen sie auch die Verkaufszahlen der Print-Ausgaben der Zeitungen. In jedem Fall steigern sie die Nervosität der Regierungsmitglieder. Und wo Rauch ist, ist in diesem Fall ja wirklich Feuer. Es lodert allüberall.

Familienministerin Lisa Paus (Grüne) provoziert die FDP mit der Kindergrundsicherung, die FDP lässt Paus auflaufen, Paus b(l)ockt zurück[9], Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) provoziert nicht nur die Grünen, sondern auch die Koalition und droht mit Fahrverboten, wenn im Klimaschutzgesetz nicht die Linie der FDP zum Zug kommt, um zugleich noch ein Junktim mit einem zweiten Gesetz zu verbinden. Christian Lindner (FDP) provoziert alle – inklusive der Wählerinnen und Wähler.

Und Hauptstadtauguren spekulieren, ob nach einer für die SPD desolaten Europawahl Olaf Scholz für Boris Pistorius weichen soll[10].

Als größte Bremser in der Regierung erscheinen in der Öffentlichkeit die Freien Demokraten. In den Sonntagsfragen-Umfragen liegen sie stabil unter 5 Prozent, ein Koalitionsbruch würde die FDP in existenzielle Nöte stürzen. Umso mehr überrascht die nach außen zur Schau gestellte Kompromisslosigkeit von Christian Lindners Truppe, denn mit der kapitalkräftigen Stammwählerschaft allein kann die Partei ihre Bundestagsmandate vermutlich nicht sichern.

Wie beim Kanzlerwechsel 1982, als die FDP den Koalitionsbruch in der sozialliberalen Koalition auslöste (Lambsdorff-Papier), müsste sie auch diesmal nach einem Wende- oder Ausstiegsmanöver ums Überleben kämpfen.

Und für eine Koalition mit der CDU/CSU reicht es auch dann nicht, wenn die FDP nach Neuwahlen über die 5-Prozent-Hürde springt. Ein konstruktives Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag verspricht derzeit auch keinen Erfolg.

Denkbar ist eine andere Entwicklung, unabhängig davon, ob sie realistisch ist: Die SPD tauscht aus Selbstschutz-Gründen den Kanzler aus. In mehreren Bundesländern ist die SPD bereits auf dem Weg der Selbstverzwergung.

Derzeit[11] versucht es Scholz mit dem Image des »Friedenskanzlers«.[12] Die Deutschen nehmen ihm diese Attitüde aber anscheinend nicht ab. Stattdessen gilt er als Zauderer. Die Umfragen des ZDF-Politbarometers sehen Scholz nach wie vor tief im negativen Bereich. Die Deutschen sind sehr unzufrieden mit der Bundesregierung. Und auch im Eurobarometer ist Deutschland in Sachen Zufriedenheit abgestürzt. Eine große Mehrheit ist der Auffassung, dass die Dinge in die falsche Richtung laufen.

Die »Zeitenwende« hat alle Pläne über den Haufen geworfen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit des Nachtragshaushalts im Herbst 2023 war für die Koalition ein schwerer Schlag, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Man kann von einem Totalschaden sprechen. Seither hat die Ampel permanent Kurzschlussreaktionen. Jetzt wird auch deutlich, dass die drei Parteien mit ihrer unvereinbaren Programmatik nicht zusammengehören, weil sie nicht zueinander passen.

»Es ist nicht mehr nur ein Anton Hofreiter, der seinem Kanzler vorwirft, ein „Sicherheitsrisiko“ zu sein, weil der die Marschflugkörper nicht liefern will. Inzwischen gehen so ziemlich alle aufeinander los.« So kommentiert Johannes Bebermeier den desaströsen Zustand der Ampelregierung.

Die Hürden für Neuwahlen sind allerdings aus historischen Gründen hoch. Anders als in der Weimarer Republik hat die Verfassung Sicherheiten eingebaut, damit die Lage des Landes nicht instabil, der Staat nicht unregierbar wird.

Der Bundestag selbst hat keine Befugnisse zur Selbstauflösung. Neuwahlen führen nur über den Weg der Vertrauensfrage des amtierenden Kanzlers. Anders als bei Helmut Kohl 1983 wäre dies dann keine Schein-Vertrauensfrage, sondern eine echte.

Nach Lage der Dinge im April 2024 ist dieses Vertrauen längst verspielt. Die Koalition lebt in zerrütteten Verhältnissen. Eine Scheidung wäre angesichts der gegenseitigen Sottisen folgerichtig, würden die jeweiligen Parteien nicht ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzen.

Vielleicht ist ein Kanzlerwechsel in der Legislaturperiode[13] tatsächlich die einzige Möglichkeit für die Koalition und für Deutschland, bis 2025 doch noch gut über die Runden zu kommen. Es bleibt aber in jedem Fall unübersichtlich in der deutschen Mitte. [14]

Die Union verspricht sich von Neuwahlen einen Aufschwung. Der ist aber trotz signifikanter Fehlleistungen der Ampelkoalition bisher ausgeblieben. Friedrich Merz gilt zwar als unsympathisch, hat aber nach Ansicht vieler überregionaler Medien an sich gearbeitet. Sein Generalsekretär Linnemann verkauft ihn nun staatsmännisch, auch als Oppositionsführer. Bisher stieß die aggressive Art des CDU-Chefs viele Menschen ab. Die Sympathiewerte des Sauerländers könnten besser sein. »Wir arbeiten dran« heißt es im Konrad-Adenauer-Haus. Möglichkeit zwei, die aber weniger realistisch erscheint: Ein Alternativkandidat der Union wie Hendrik Wüst oder Daniel Günther könnte Stimmen einsammeln, die Merz nicht gewinnen kann. Für die Union lohnt sich offenbar das Drängen auf Neuwahlen. Und Sahra Wagenknecht will mit BSW auch von Neuwahlen profitieren. Unmöglich ist dies nicht.

Vor einem Jahr hätte ich vorzeitige Neuwahlen ebenso ausgeschlossen wie einen Kanzlersturz. Mittlerweile scheint mir der Kanzlerwechsel fast unausweichlich zu sein.

RISIKO! Oder?

Schreibt mir Eure Meinung.

Armin König

[1] Von Mai 2011 bis Dezember 2013 war Daniel Bahr Bundesminister für Gesundheit im Kabinett Merkel II. Seit 2014 ist Bahr Manager bei der Allianz Private Krankenversicherung. Was für eine geniale Karriere! Das FDP-Ministeramt (2 Jahre als Praktikant gewissermaßen) als Sprungbrett für die Managerkarriere bei der privaten Krankenversicherung. Das ist die typische Blaupause für PolitikerInnen, insbesondere für FDP, CDU-CSU- und SPD-Ministerinnen und -Minister. Immerhin setzte Bahr sich erfolgreich für die Abschaffung der Praxisgebühr ein.

[2] SZ, 3.9.2013: »Im Juni 2010 zoffte sich die Regierung erstmals lautstark öffentlich. „Die entwickeln sich zur gesundheitspolitischen Gurkentruppe – erst schlecht spielen und dann auch noch rummaulen“, so CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt über die Liberalen. Vorher hatte der FDP-Politiker Daniel Bahr, jetziger Gesundheitsminister, die CSU als „Wildsau“ bezeichnet. In: »Vier Jahre schwarz-gelbe Koalition : Von Supergrundrechten und Scherbenhaufen«.

[3] Stern v. 20.3.2024: Lindner und die FDP: So könnte es zum Bruch der Ampel kommen. Online-Quelle: https://www.stern.de/politik/christian-lindner-und-die-fdp–so-koennte-es-zum-bruch-der-ampel-kommen-34557598.html

[4] DIE ZEIT,  28.4.2024: Djir-Sarai sieht unüberbrückbare Differenzen zu Koalitionspartnern. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-04/atomkraft-wiedereinstieg-fdp-bundesparteitag-ablehung

[5] Warum bleibt man dann in einer Koalition?

[6] Mehr dazu in dieser Ausgabe.

[7] Johannes Bebermeier (2024): Jetzt verlieren sie die Nerven. T-online 20.3.2024. https://www.t-online.de/nachrichten/tagesanbruch/id_100367422/ampelkoalition-verliert-die-nerven-wie-weit-ist-ihr-ende-entfernt-.html

[8] wahlkreisprognose.de: Bundestrend: Scholz und SPD im Abwärtsstrudel. 4.1.2024. https://www.wahlkreisprognose.de/bundestrend-scholz-und-spd-im-abwaertsstrudel/

[9] tagesschau.de, 10.4.2024,»Paus gegen grundlegende Überarbeitung«: »Der Streit zwischen der FDP und Familienministerin Paus über die geplante Kindergrundsicherung hält an. Die Liberalen fordern eine grundlegende Überarbeitung Paus lehnt das jedoch entschieden ab.

[10] Als Kanzler in Reserve wird Verteidigungsminister Pistorius mit unterschiedlichen von SZ, Stern, FAZ, Redaktionsnetzwerk Deutschland, Bild, Tagesspiegel, SWR, ZDF und anderen Medien mit unterschiedlichen Schlagzeilen seit Januar 2024 ins Gespräch gebracht.

[11] 2024

[12] So in  SZ, Merkur, FAZ, Spiegel und weiteren Medien.

[13] Angeführt werden i.d.R. die Wechsel Brandt/Schmidt und Schmidt/Kohl (konstuktives Misstrauensvotum).

[14] Vgl. Korte (2022).